Er konnte sich nicht mehr erinnern, wann es begann in dieser Nacht. Alles was er noch wusste war, dass dieser Impuls ihn überfiel. Und er tat das musikalisch, genauer in e-moll, mit dem Anfangschor aus Bachs Matthäus-Passion. „Kommt ihr Töchter, helft mir klagen.“ Die Betroffenheit der Musik wurde in diesem Augenblick persönlich. Es war er selbst, es war seine Verantwortung. Es war sein Geschehen und es lag keine zweitausend Jahre zurück. Es wiederholte sich schließlich seitdem immer wieder. Und so auch heute. Das Klagen war ein Weinen über all das Leiden unter dem Himmel. Während der nächsten Stunden spannte diese Musik aus nichts Weniger den Bogen. Alle hörbare Kraft war hier nichts weiter als die Illustration von Leiden. Auch der Schluss kam zu keinem anderen Ergebnis: „Wir setzen uns mit Tränen nieder.“ Ohne diese Tränen war die Welt plötzlich auch für ihn nicht mehr zu denken. Wer nach Erkenntnis strebte, hatte diesen Weg zu gehen, aus der Dunkelheit des Schmerzes zu schauen – um das Licht umso deutlicher zu finden. Je schwärzer die Eine, desto heller das Andere. War es so? Immer schon?
Er – nennen wir ihn Christoph – war seitdem voller Energie. Und diese Energie war darauf gerichtet, Dinge zu tun, die sich wie von selbst an ihm vollzogen. So stand er auf, wusch sich kurz. Er suchte sich einen alten Mantel heraus, einen kleinen Beutel, in den er etwas Brot und ein Stück Wurst verstaute. Ihn band er an einen Stock, nahm seine Sandalen und lief los. Weder hatte er geschaut wohin er wollte. Noch hatte er im Moment des Loslaufens irgendeine Vorstellung von einem Ziel. Selbst als Wort wollte es nicht aufscheinen. Was er sah, worauf er sich einrichtete, war nur der Weg. Und selbst diesen sah er nicht als Ganzes, sondern nur Schritt für Schritt. So begann für Christoph die Woche, die die Menschen um ihn herum gerade noch als Osterwoche bezeichnet hatten. Obwohl es bis Ostern allerdings noch ein Stück hin war. Allein, dass er noch über den Karfreitag musste, die nun wirklich totale Finsternis der Tage der überall zugeklappten Altäre, machte ihm Angst. Angst, aber auch Zuversicht. Gott würde sich seiner erbarmen, dessen war Christoph sich sicher. Und so war er aus der Stadt gekommen, einem Morgen entgegen, dessen blasses Rot seit ewigen Zeiten so aufgegangen war, dass Menschen es noch einmal versucht hatten mit einem neuen Tage in ihrem sonst so dürftigen Dasein. Was hatte sich geändert?
„Zeitenwende“ – Das Wort soll offenbar etwas besetzen, ein Denkmuster, nachdem der Fluss der Geschichte aus seiner Gleichmäßigkeit abrupt die Richtung ändert. Als zeitgeistliches Narrativ gebraucht soll es vor allem das selbstständige Denken vernebeln – indem es unseren Blick lenkt. Schließlich nimmt es definitorisch etwas vorweg, was erst die Geschichte selbst mit einigem Abstand ermöglicht: Absolut vom Relativ zu scheiden. Nicht das Ereignis steht dann im Zentrum des Betrachtens, sondern die Story ringsherum, der Rahmen – nebst zugehöriger Absicht.
Am 16.März 1968 ermordeten US-Truppen in dem vietnamesischen Dorf My Lai über 500 Zivilisten, die allermeisten Frauen, Greise und Kinder. Auch alle Tiere des Dorfes töteten sie. Frauen wurden vor ihrem Tod vergewaltigt, den Kindern schoss man in den Kopf oder erstach sie mit dem Bajonett. Zwischen den Hütten wurden keine Vietcong-Kämpfer angetroffen und man traf auch auf keinen Widerstand. Es war Mord, Krieg eben. Dennoch war die Armee mit dem Einsatz äußerst zufrieden, denn es gab auf Seiten der USA keine Toten und lediglich einen verletzten Soldaten. Die Vertuschung dieser Taten zog sich über Jahre, erfasste alle Befehlsebenen bis hinauf zum Pentagon. Präsident Nixon selbst begnadigte den einzigen verurteilten Beteiligten nach nur vier Monaten Haft. Weitere Prozesse wurden eingestellt. Eine Zeitenwende war das ebenso wenig wie der 9/11 von 1973. An diesem Tage putschten von den USA bezahlte und instruierte Militärs gegen die gewählte Regierung Chiles. Keine Zeitenwende war der Beginn des zweiten Irak-Krieges – gegen den Beschluss der Vereinten Nationen und gerechtfertigt mit einem Sack von Lügen. Über die Opfer im syrischen Rakka schreibt DER SPIEGEL: „Während der US-geführten Offensive, die Rakka vom IS befreien sollte, wurden Tausende Zivilisten getötet oder verletzt. Amnesty International kritisiert, dass die Länder der Militärkoalition bisher nichts unternommen hätten, um den Berichten über zivile Opfer angemessen nachzugehen oder Augenzeugen sowie Überlebende zu interviewen. Zudem geht die Organisation davon aus, dass viele der dokumentierten Fälle sehr wahrscheinlich Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht darstellen.“ Keine Zeitenwende trotzdem, auch nicht im Jemen, in Afghanistan und auch nicht während der Balkankriege – immerhin in unserer europäischen Nachbarschaft.
Im Jahre 2002 unterzeichnete US-Präsident George W. Bush den „American Service Members Protection Act“. Das Gesetz dient der gezielten Schwächung der Position des Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag, indem es US-Bürger vor der Auslieferung an den Internationalen Strafgerichtshof schützt. Des Weiteren wird der Präsident der Vereinigten Staaten ermächtigt, alle notwendigen Mittel, einschließlich militärischer Invasionen, einzusetzen, um vor dem Gerichtshof angeklagte US-Bürger aus dessen Zugriff zu befreien. Eine „Zeitenwende“ für das Rechtsempfinden des demokratischen Westens war auch dieser Cowboy-Streich nicht. Im Gegenteil: in den folgenden Jahren tötete die Obama-Administration mit unbemannten Drohnen mehr Zivilisten in aller Welt als alle Vorgänger-Regierungen seit dem Vietnamkrieg zusammen.
Christoph war ratlos. Die Fakten und Bilder all dieser Taten wurden in sein Hirn gespiegelt, Menschen taten sie Menschen an. Damals, heute, immer wieder. Sogar in unserer Nähe wurden und werden aus normalen Leuten Bestien. Sie töten mit Lust, dazu braucht es kein Gesellschaftssystem, keinen Abbau von Hemmungen. Die Wildheit ist in uns, der Firnis ihrer Zähmung dünn und ohne Gewähr. Wer in den Zeiten von Corona seine Eltern angezeigt hat, wer angesichts der täglichen Messermorde wegschaut oder auch nur weiter den woken Herold spielt, der werfe hier keinen Stein. In unseren Breiten und unter deutscher Zunge wurden mehr Hexen verbrannt als im restlichen Europa zusammen. An diesen Feuern und mit dem Geruch des verbrannten Fleisches in der Nase muss jene moralische Überheblichkeit geboren worden sein, die seitdem ihren Gratismut verspritzt und das Miteinander vergiftet. Oder war das weit früher? Als sie „Barrabam“ schrien, den Mörder zurücknahmen und jenen Anderen ans Kreuz lieferten? Samt seinen Wahrheiten natürlich – und vermutlich wegen ihrer daselbst innewohnenden Gefährlichkeit. Dass wir alle sie hernach fortwährend bezeugen, gehört seitdem zum perfiden Spiel. Auch auf dem Place de la Concorde ließen sie den König hochleben – nachdem das Fallbeil seinen Kopf vom Rumpf mehr oder weniger sauber getrennt hatte. So ist die Welt, das sind ihre Regeln. Man möchte das nicht Ordnung nennen, aber dagegen aufzustehen, erweist sich als zwecklos. Meistens jedenfalls.
Wir feiern das Osterfest, Christoph hat sein Ziel erreicht. Der Weg ist gegangen worden, die Erlösung ist ein Symbol. Noch ist es lebendig. Alljährlich für immer weniger Menschen notwendig – aber eben nur ein Symbol. Die Sünde bleibt und damit das Leiden und Weinen. Sie gehört zum Menschen wie der Tod zum Krieg. Wer uns glauben machen will, man könne mit der Trennung dieser zusammengehörenden Seiten Sinn stiften, predigt das Werk des Teufels.
So dachte Christoph und ging schweigend weiter in den Tag. Auf nächstes Jahr in Jerusalem!
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