Der Mensch ist für den Mangel gemacht, Überfluss macht ihn leichtsinnig, blutarm und satt. Diese Saturiertheit, das fehlende Wissen, mit der errungenen Freiheit sinnvoll zu verfahren, treibt vor allem den Westen in Kämpfe, die er nicht gewinnen kann. Nur deswegen bricht die Welt jetzt scheinbar an den bekannten aber weggedachten Konfliktlinien auseinander. Könnten wir wirklich Frieden stiften, Gerechtigkeit wenigstens oder das gute Beispiel – dann wäre alles nicht passiert. Hätte man vor der militärischen Kraft Respekt wie einst, wären die Dinge ebenfalls anders verlaufen. Das ist die wirkliche Zeitenwende: Die Welt justiert sich neu. Der Wettbewerb um die guten Plätze wird darum mit erbarmungsloser Härte geführt. Einer Härte, die viele Akteure geradezu nackt erscheinen lässt. Vor allem uns, die nach dem Fall des eisernen Vorhanges von einer ewigen Friedensdividende geträumt haben. Huntington ist damals belächelt worden, heute stehen wir mitten drin, im Clash of Civilisations. Und von einem „Ende der Geschichte“ faselt niemand mehr.
Die USA sind – der Terrorüberfall der Hamas hatte auch diese Botschaft – in der Defensive: Die Solidarität mit Israel und die Angst vor einer drohenden Eskalation über Israels Grenzen hinaus bestimmen den Kurs Washingtons. Wer aber ist an einer Eskalation interessiert?
Der Blick fällt zunächst auf Teheran: Iran hält sich seit Jahrzehnten die Terrormiliz Hisbollah im Libanon und hat nun auch die Hamas hochgerüstet und motiviert. Traditionell ging es dem Iran darum, einen schiitischen Machtgürtel vom Westen Afghanistans bis zum Mittelmeer zu kontrollieren. Angesichts eines von den USA eingefädelten nahenden Abkommens zwischen Saudi-Arabien und Israel setzte Teheran auf blutige Eskalation. Sieht man genauer hin, erweist sich der Iran als Drehscheibe vieler Entscheidungen auf mehreren Feldern. Irans Außenminister konferiert mit der Hamas und dem Palästinensischen Islamischen Dschihad, auch Russlands Außenminister seine Amtskollegen aus Aserbaidschan und Armenien haben regelmäßige Kontakte. In drei Krisen spielt Teheran derzeit eine Rolle: Im Nahen Osten dirigiert es die Hisbollah und unterstützt die Hamas, im Kaukasus bremst es eine Eskalation zwischen Aserbaidschan und Armenien, im Krieg gegen die Ukraine liefert es Kampfdrohnen an Russland. Ob der Krieg um Gaza über alle Grenzen schwappt und eine internationale Dimension gewinnt, entscheidet sich maßgeblich in Teheran.
Die Türkei als NATO-Mitglied steht vor einer Zerreißprobe. Erdogan sah sich bis vor kurzem noch als Vermittler zwischen Israel und den Palästinensern. Angesichts der Bilder aus Gaza und dem Druck seiner Bevölkerung hat er diese Rolle nun aufgegeben und stellt sich politisch und in letzter Konsequenz wohl auch militärisch an die Seite der Palästinenser. Dass er die Hamas als „Freiheitskämpfer“ bezeichnet, illustriert die Gefährlichkeit der Situation. Die Türkei hat mit über 2 Mio. Soldaten nicht nur die stärkste Armee in der Region, sie ist der einzige NATO-Partner, der eine gewisse strategische Autonomie außerhalb der USA besitzt. Sollte Amerika gegen die Verwendung seiner Waffensysteme ein Veto einlegen – ohnehin nicht bindend und nur als moralische Kategorie aufzufassen – hat sich Pakistan angeboten, seine Systeme zur Verfügung zu stellen. Pakistan hat 180 Mio. Einwohner, ist strenggläubig und eine Atommacht.
Ägypten ist seit dem Zurückdrängen der einflussreichen Muslimbruderschaft durch eine Militärregierung unter Sisi nicht nur fragil, sondern existenziell daran interessiert, keine Eskalation mit Israel zuzulassen. Die Aufnahme von staatenlosen Palästinensern aus Gaza birgt die Gefahr, dass die Hamas von Ägypten aus Raketen auf das Nachbarland abfeuert und damit einen Kriegseintritt provoziert. Das Szenario würde zum Zusammenbruch des Staates führen. Mögliche Fluchtrouten aus Gaza ans Mittelmehr und letztlich Richtung Europa führen durch Ägypten. Ob Israel mit Hilfe von internationalem Druck erreichen kann, dass ein großes Siedlungsgebiet für die Palästinenser auf der Sinai-Halbinsel entsteht, bleibt sehr hypothetisch.
In einer ähnlichen Lage befindet sich König Hussein in Jordanien. Das Land hat schon vor Jahrzehnten 700.000 Palästinenser eingebürgert. Assimiliert sind diese deswegen nicht, ihr Flüchtlingsstatus ist vererbbar und eine Quelle dauernder Instabilität. Die auf die israelische Grenze vorrückenden Muslimbrüder konnten bis auf weiteres gestoppt werden. Mit jeder Serie schrecklicher Bilder aus Gaza wächst die Gefahr, dass die Lage außer Kontrolle gerät. Erinnert sei daran, dass es diese Region war, von der sich – aufgrund von ausbleibender humanitärer Hilfe – 2015 der Flüchtlingszug in Richtung Europa ergoss.
China und Russland sind die geopolitischen Gewinner der Stunde. Ob sie diesen heimlichen Triumph in eine neue Systematik der Welt hinüberretten können, hängt ganz wesentlich von ihrer Fähigkeit ab, jetzt als glaubhafter Vermittler im Nahen Osten zu agieren, eine Rolle, die man im Westen wütend zurückweist. Doch die Welt hat sich sehr geändert: Mit den BRICS-Staaten und vor allem Afrika und Lateinamerika erfährt der globale Süden gerade die entscheidende Stärkung von Ländern, denen die egozentrische und rücksichtslose Bigotterie der westlichen Staaten schon lange ein Dorn im Auge ist. Die Abhängigkeit der sog. Entwicklungshilfe von den Programmen der Weltbank und des IWF haben sie ohnehin weitgehend abgeschüttelt und durch Kooperationen, vor allem mit China, ersetzt. Da die westliche Sanktionspolitik nur im Westen geschadet hat, stehen beide Länder, China und Russland, heute stärker denn je als geopolitischer Akteur in den Krisenregionen, vor allem wirtschaftlich. Sie hat zudem den Transformationsprozess der Abkoppelung von den irrational agierenden NATO-Ländern und ihren Vasallen, ja der antiglobalistischen Teilung und Neuordnung, stark beschleunigt und auf der anderen Seite einen wirtschaftlich und militärisch überdehnten Westens zurückgelassen. Die Ukraine-Politik ist plötzlich von gestern. Wenn Teile der US-Administration heute warnen, man könne sich nicht in zwei Konfliktherde militärisch einbringen, wie verhielte es sich erst mit dem Umschwenken der Türkei oder dem Eintritt des Irans in eine oder mehrere Krisen?
Der für Europa größte Kollateralschaden amerikanischer Außenpolitik der letzten 20 Jahre entstand durch die Migrationsströme aus den Ländern, in denen die angebliche Front zwischen dem demokratischen Westen und der Barbarei ausgemacht wurde: Afghanistan, Syrien, Jemen, Irak und die Länder des gescheiterten afrikanischen Frühlings in Nordafrika. Über diese Wege gekommen, leben heute etwa 50 Mio. Muslime in Europa, die Tendenz durch weitere Migration, Familiennachzug und ihre höhere Geburtenrate ist stark steigend. Die Annahmen ihrer Assimilation oder auch nur Integration, verbunden mit der Annahme der Werte ihrer Aufnahmeländer, haben sich nicht bestätigt. Zukunfts- und frauenfeindliche Lebensmodelle, tief verwurzelter Judenhass, Kriminalität und Gewaltbereitschaft, machen diese Gruppe nun zu einer Gefahr für Europa, für Demokratie und Freiheit selbst. Eine politische Übernahme westlich orientierter Staaten scheint nicht mehr ausgeschlossen. Wir haben wohl schon jetzt weder die Mittel noch die mentale Bereitschaft, ihre Anwendung in der Praxis auch zu ertragen. Dieses Szenario wurde von den Think-Tanks der CIA schon für 2024 vorausgesagt und klar als Bürgerkrieg bezeichnet. Aus ihm erwächst die Notwendigkeit, vor allem weitere Migration aus dem Nahen Osten jetzt und in der Zukunft, auch aus humanitären Gründen, strikt zu unterbinden und nach Lösungen vor Ort und im Zusammenwirken mit den Staaten der Region zu suchen. Dieser Priorität ist gerade im Moment alles unterzuordnen. Will man ihr Rechnung tragen, muss man – um es mit Douglas Mc Gregor zu sagen – „Israel vor sich selbst schützen“. Das solidarische Verständnis seiner Selbstverteidigung endet abrupt an ihrer Fehlinterpretation. Das ist von ihrem Missbrauch – wie er schon jetzt von einigen Linken ausgemacht wird – noch weit entfernt.
Die neuen Antworten werden gerade jetzt und von anderen als den gewohnten Akteuren auf der globalen Bühne gegeben. Wir haben dazu die Fragen hierzulande oft falsch formuliert. Unsere Annahmen waren schon falsch. Unsere vermeintliche Überlegenheit beruht weitgehend auf der Gewissheit, dass die Welt in den letzten Jahrhunderten fast ausschließlich mit europäischen Augen beschrieben worden ist. Erst allmählich nehmen wir wahr, dass auch andere Augen sehen können und sogar Europa und unsere Werte auf den Prüfstand ihrer Erfahrungen stellen – und in diesem Zuge zu völlig anderen Erkenntnissen und Zielen kommen. Der Wettbewerb um Lebens- und Demokratiemodelle, um die Art des Wirtschaftens, die Gewichtung von Argumenten und den Stellenwert von Macht und Stärke, ist, vielleicht zum ersten Male in der Geschichte, eröffnet. Diese Welt wird sicher keine bessere sein, wenigstens aus unserer Perspektive nicht. Wir haben aber unseren Anteil an dieser Veränderung und sollten in diesem Wettbewerb souverän unsere wirklichen Stärken ausspielen: Vernunft und Freiheit, unsere Fähigkeit zu Frieden und Verständigung auf der Basis von Ausgleich und Gerechtigkeit.
Ein neues Denken in diesen Fragen ist nötig, vor allem im Interesse Deutschlands und seiner Rolle in Europa und der Welt. Nach wie vor stehen viele unserer Tugenden dort hoch im Kurs, konnten von linksgrünem Schlamm noch nicht vollständig bedeckt werden. Die nächsten Jahre werden entscheidend für unser Überleben sein. Der Westen wird zunächst in unseren Köpfen verteidigt, mit der Fähigkeit zum vorausschauenden Denken!
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