Wir erinnern Bilder und Situationen aus der Vergangenheit vorrangig positiv. Uns erscheinen später die Jugendjahre wie eine Zeit endloser Freiheit und Glückseligkeit – oft losgelöst, abgehoben von den tatsächlichen Begebenheiten. Manchmal ist es ein Geruch, ein Windhauch, der Sonnenstand, das Licht oder Musik – und alles steht wieder da wie damals. So geht es auch mit dem Sozialismus. Es gab einen Witz, da sagte der Parteisekretär den Bauern am Schluss seiner Rede: „Und jetzt geht nach Hause und arbeitet hart, dann zeigt sich schon der Kommunismus am Horizont.“ Horizont, Horizont fragen sich die Bauern. Einer schaut ins Lexikon: „Der Horizont ist eine gedachte Linie, die sich beim Versuch der Annäherung immer wieder entfernt.“ Da leuchtete plötzlich die Klarheit des Herrn über ihnen und gab den täglichen Mühen Struktur. Die Ernteschlacht war so plötzlich eine Wegmarke auf dem Weg in die goldene Zukunft. Vorwärts immer, rückwärts nimmer.

Für mich als Kind verbinden sich mit dem abstrakten Begriff des Sozialismus zwei Bilder. Zum einen die Szene an der Haltestelle aus Bulgakows großartigen Roman „Der Meister und Margarita“ und dann die Unbeschwertheit eines Waldbades. Jung und Alt, Arm und Reich liegen faul in der Sonne, schauen auf das gekräuselte Wasser und wie sich ihre Strahlen wie endlose Kaskaden glitzernder Lichter spiegeln. Irgendjemand hat mal darüber geschrieben, welche zentrale Rolle die städtische Badeanstalt aus bevölkerungspolitischer Sicht gespielt hat, als Kontakthof für spätere Familien genauso wie eben mal so zwischendurch. Das machte die Sache reizvoll. Wenn man an Gesellschaft als philosophische Kategorie dachte – hier war sie. Oft sogar teilweise oder ganz nackt. Ohne Unterschiede, wenn man die heute als soziale Konstrukte klassifizierten Geschlechterrollen außer Acht ließ.

Auch die oben genannte Haltestelle illustrierte Gleichheit. Die Menschen, die von der Arbeit kommen, im gleichen drückenden Staub des Nachmittags, voller Vorfreude auf die kleinen Zipfel von Glück zu Hause. Das Blinzeln in den Sonnenuntergang, das Quietschen der Straßenbahn und der Gedanke an Entspannung. Kinder spielen unbeschwert, das Leben ist geregelt. Sogar das Wetter würde morgen so sein wie heute, wenn man es schaffte, noch vor dem Regenguss daheim zu sein. Diese Szene konnte in der DDR spielen, in Bulgarien oder sonstwo im Osten. Es war ein gleichgeschaltetes und unterschwelliges Lebensglück. Aus heutiger Sicht fast unwirklich, welchen Preis die kurze und scheinbare Freiheit uns gekostet hat.

Was ist geschehen, was hat die Menschen so auseinandergetrieben seitdem? Da ist zunächst einmal der Verlust von Streben, vom Bemühen, den eigenen status quo als veränderbar anzuerkennen, ein Anti-Fatalismus mit dem Ich im Zentrum. Haben oder Sein nannte das Erich Fromm und meinte die Balance von Persönlichkeit und Bewusstsein, eine höhere Einsicht in die Zusammenhänge von Werden und Vergehen. Die Orientierung war in unserer Kindheit überall, wer sich treiben ließ, hatte entweder Hilfe nötig oder gehörte schon zu den sog. Aussteigern. Sicher war man stolz auf das Erreichte, aber was war das schon? Materiell waren uns allen bis auf wenige Ausnahmen enge Grenzen gesetzt. Heute ist der Leistungsgedanke einer Orientierung nach unten gewichen. Gerechtigkeit wird ihrem Sinn nach als ausgleichend angestrebt, niemals als austeilend. Eliten sind verpönt, Haltung statt Leistung, Sozialkompetenz statt Wissen, Moral statt Bildung. Der große Austausch ist nahezu vollzogen. Man beklatscht sich in der eigenen Blase und bewundert sich dort gegenseitig für den Mut, ungefährlich die eigenen Selbstverständlichkeiten zu wiederholen.

Alle gesellschaftlichen Schichten sind sich hingegen einig, Köpfe – wie in der Champignonzucht – umgehend zu kappen. Das Solidarisierungsgefühl des Niederen gegen jede ihrer Region entwachsenden Bestrebung wird mit einer Niedertracht befeuert, die die ganze Gesellschaft Stück für Stück nach unten reißt. Die Lust an Häme und Schmähung, am Runtermachen und Verunglimpfen ist zu einer deutschen Tugend geworden, sie gipfelt in dem kulturellen Selbsthass, der vor dem Eigenen nur noch Ekel empfindet, innerlich und nun auch immer öfter äußerlich. Der so hoffähig gemachten Verkommenheit ist dann auch nichts mehr heilig, keine Kultur, keine Tradition und auch keine Zivilisation. Der Plebs auf der Straße, der Abgehängte, der Versager, kompensiert seine Ohnmacht mit einer geradezu demütigenden Macht gegenüber allem für ihn Unerreichbaren. Da er für sich und sein Dasein Normalität reklamiert, müssen all die Menschen um ihn nicht nur unnormal sein, sie sind gleichzeitig auch noch schuld an seiner Misere.

Da ist auch kein Entkommen: jede Partei, Verbindung, jeder Verein und jede Unternehmung trägt ganz ohne Zweifel diesen genetischen Defekt in sich, verfestigt ihn und schreibt so eine Entwicklung fort, die nur im Desaster für eine Kulturnation wie unsere enden kann. Der innerparteiliche Schrei, „was glaubt ihr, mit welchen Stimmen der gewählt worden ist?“ ist dann doppelt dumm, wenn man sich nur einen Wimpernschlag früher oder später über die rückabgewickelte Wahl in Thüringen echauffiert. Dort passierte bekanntlich nichts Anderes, nur eben andersherum. Einsicht, Reflektion gar? Fehlanzeige!

Dieser Sozialismus, der als Idee begann und als Illusion endete, taugt heute nur noch zum Wunschbild, zur verzerrten Projektion der eigenen Infantilität. So wie man 1968 in Deutschland Revolution spielte und sich dabei an Mao orientierte, der allerdings Millionen seiner Landsleute umbrachte oder verhungern ließ. Das Gift dieser Salon-Linken quillt heute aus fast jeder Textzeile der überwiegenden Medien, es fungiert sogar als Taktgeber einer galoppierenden Ideologie der Verblödung.

So kurios das klingen mag, aber das hat mit den Bildern meiner Kindheit nichts gemein. Auch wenn die Partei und ihre Funktionäre wohl nicht die Träger von Kultur waren, von Leistung, Bildung und dem Stolz auf Geschichte hatte man niederzuknien, den Unsterblichen der Vergangenheit war zu huldigen. Der vererbte Instinkt nach Vollendung ebnete die Wege, die heute ohne die richtige politische Einstellung versperrt sind. Auch in dieser Frage hat sich die Welt einmal gedreht. Ich aber komme wohl für diese Art werteloser Geschmeidigkeit zu spät.

Wer heute zu Bulgakow, seinem übergroßen Kater, den verschlungenen Allegorien eines Großstadt-Mephisto der Neuzeit, mehr als fünf Sätze sagen kann, darf darüber sogar den ersten Stein werfen.