Seit 46 Jahren rasen die „Voyager“-Zwillingssonden mit rund 60.000 Kilometern pro Stunde in den interstellaren Raum. An Bord befinden sich die sogenannten „Golden Records“, als Botschaften an außerirdische Lebensformen gedacht. Auf einer von ihnen spielt Glenn Gould die Goldberg-Variationen von Bach. Damals hatte man die weise Einsicht, dass die Existenz der Raumsonde allein – trotz ihrer offenbaren Komplexität und Fähigkeit, unser Sonnensystem zu verlassen – als Ausweis für Intelligenz und Kreativität unserer Spezies noch ungenügend sei. Die Musik Bachs, gepaart mit Goulds frappierenden handwerklichen Fähigkeiten und seinem musikalischen und strukturellen Verständnis, standen so stellvertretend wohl für Shakespeares Sonette oder Goethes „Faust“ als (allerdings an Sprache gebundene) Äußerungen der Menschheit als Krone der Schöpfung. Eine solche Ordnung der Töne, scheinbar keinem gewöhnlichen sondern göttlichem Zweck folgend, dabei erhaben wie die Sixtina, musste es sein.
Das alles erfolgte in einer Zeit, in der die Erwartung an die Möglichkeiten künstlicher Intelligenz gigantisch waren und das Bewusstsein darüber vorhanden, dass auch ein Einstein nur etwa zehn Prozent der theoretisch möglichen kognitiven Fähigkeiten des Homo sapiens genutzt habe. Nicht an Bord waren afrikanische Benin-Bronzen, ukrainische Stickereien und andere Selbstvergewisserungen, wie sie heute vor allem im Westen mit dem Blick in die eigene Unterhose gepflegt werden. Diese Liste ließe sich fortsetzen und wird hier nur aufgemacht, um zu verdeutlichen, was seitdem geschehen ist und mit immer größerer Geschwindigkeit in die rattenhaften Niederungen unserer Zivilisation strebt. Wer den erbrochenen Wortsalat der angeblich deutschen übergriffigen Jugend im Zuge der Silvesterkrawalle gehört hat, ahnt, welche Zukunft uns beschieden sein wird.
Nun ist das natürlich kein Zufall, sondern ein geradezu elitäres Programm. Die Gleichmachung von Allem und Jedem, die Einebnung von Kultur und Bewusstsein, erfordert gleichsam eine Orientierung nach unten. Die so geförderte Individualität ist keine mehr, die sich qualitative Unterschiede im Sinne eines Strebens nach Höherem zunutze macht. Im Gegenteil: Alle sind darin gleich, uniform und Nichts zu sein. Allein Deine Geschlechterrolle darfst Du wechseln, eine Freiheit, die raumgreifend das Denken vernebelt und Erkenntnis verstellt. Unsere Zeit versucht sich damit in der Verbindung zwischen dem freischwebenden Geist von Hippies mit dem unternehmerischen Antrieb von globalistischen Yuppies. Der radikale soziale und kulturelle Liberalismus der einen sucht dem hohlen Materialismus der anderen moralische Tiefe zu verleihen. Was Klaus Schwab und seine westlichen Jünger mit der Beseitigung der Alten Welt samt ihren Traditionen und zugunsten des Neuen Menschen und der Neuen Gesellschaft vorhaben, offenbart sich hier. Die Einheitskreatur, nach den Vorgaben der Diversität kostümiert, kann auch nur existieren, wo der kulturelle Humus und mit ihm jede kulturelle Identität vorher gründlich beseitigt wurde. Familie, Nationen, Bildung, Geschichte, Denken, Kompetenz aus Wissen statt bloßer Haltung – dort überall wird die Brechstange angesetzt. „Keine Zukunft ohne Herkunft“ war gestern. Heute wird das Weltkollektiv, die Konsensgesellschaft, der ethnisch und inklusiv durchmischte Neue Mensch – all das erinnert an die Volksgemeinschaft, nur auf höherer Ebene – postuliert. Widerstand, ja selbst Widerspruch gegen diesen autoritären Irrsinn wird nicht geduldet.
Erwiesenermaßen effizient für die Umsetzung dieser Ziele ist dabei der Angriff auf unser Bildungssystem. Im weltweiten Ranking der besten Universitäten findet sich EU-weit keine mehr unter den ersten 50. Und das in der angeblich zukunftsträchtigsten und wettbewerbsfähigsten Region der Erde. Deutschland, das Land der Dichter und Denker, das seit jeher eine besondere Affinität zu Bildung und Kultur aufwies, wird hier sogar mitten ins Herz getroffen.
Ob es sich um die rasante Veränderung unserer Sprache handelt oder die wachsende Zahl von funktionalen Analphabeten in der Bundesrepublik – die fatale Tendenz ist überall ähnlich. Knapp 15 Prozent der deutschen Bevölkerung sind nicht in der Lage, mehr als einen Satz sinnerfassend zu lesen. Das betrifft vor allem, aber nicht nur, Menschen mit Migrationshintergrund, Arbeitslose und Schulabbrecher. Bestürzend ist, dass mittlerweile jeder Achte aus dieser Gruppe sogar einen höheren Bildungsabschluss hat.
In nur einem Jahrzehnt verringerte sich die Zahl der Eltern, die ihren Kindern das Bücherlesen vermitteln, um die Hälfte. 25 Prozent der Deutschen lesen überhaupt keine Bücher mehr. Dieser Verzicht reduziert nicht nur die Gehirnaktivität, sondern schmälert die kognitiven und auch sozial-kommunikativen Kompetenzen bis zur Verkümmerung. Je geringer die Informationsverarbeitungskompetenz und je verkümmerter die Sozialkontakte, umso eindimensionaler und seltener fallen dann auch die Fragestellungen der von Kulturlosigkeit Betroffenen aus. Die Resonanz für Kultur geht dahin.
Aber auch die Beurteilungskompetenz erodiert. Nur aufgeklärte Bürger können einen aufgeklärten Staat garantieren. Bildung ist somit das wichtigste Bollwerk gegen totalitäre, menschenverachtende Ideologien. Böckenförde lässt grüßen. Auf kulturelle Kompetenzen heruntergebrochen bedeutet das, man hört, sieht, fühlt nur, was man weiss. Ein klavierspielender Polit-Clown wie Igor Levit hätte in einer kulturell gebildeteren Zeit, noch vor 20 Jahren nämlich, von woker Presse nie zum angeblichen Weltstar geschrieben werden können. Die üppig mit Staatsgeld subventionierten Aktionen linker bzw. grüner Möchtegern-Künstler schafften es nicht über die Wahrnehmbarkeitsschwelle. Und fanatisierte Jugendliche einer selbsternannten „Letzten Generation“ hätte man früher die Museumstreppen herunter geprügelt wenn sie nicht – und das ist wesentlich wahrscheinlicher – aus Respekt vor der Arbeit und ihrem Wert auf diese Art von Bilderstürmerei verzichtet hätten.
Was am Anfang des neuen Jahres bleibt, ist eine Ratlosigkeit. Die Welt um uns herum hat offenbar einen Weg gewählt, vielleicht nicht mit Mehrheit, aber laut und damit wirkmächtig. Ernst Jünger soll in den 50ern des letzten Jahrhunderts die Empfehlung für „Waldspaziergänge“, für eine Gesundhaltung an Körper und Geist durch innere Einkehr, durch Emigration ins Private gegeben haben. Was aber, wenn wir anders aus dem Wald herauskommen als wir hineingegangen sind, wenn uns dann noch schmerzhafter bewusst wird, wie krank und irregeleitet die Zukunft aufscheint?
Richard Wagner schließt seine Oper „Die Meistersinger“ mit den Worten:
Ehrt Eure deutschen Meister,
dann bannt Ihr gute Geister!
Und gebt Ihr ihrem Wirken Gunst,
zerging’ in Dunst
das Heil’ge Röm’sche Reich,
uns bliebe gleich
die heil’ge deutsche Kunst!